Kirschbaum und Möwe
Meine Kurzgeschichte Kirschbaum und Möwe basiert auf einer Meldung in der Süddeutschen Zeitung. Sie hat also einen klitzekleinen wahren Kern. Den Mann in Kirschbaum gibt es wirklich. Ich weiß sonst nichts über ihn. Alle anderen Wendungen, inklusive Dana, sind also erdichtet und erlogen.
Los geht’s
Als die ersten Bomben fielen, war Serge fortgegangen. Er konnte die Vögel nicht mehr hören. Ihr Zwitschern war verstummt. Er packte seine Koffer, schloss seine Haustüre ab, als würde er nur kurz einkaufen und ging nach London.
Zwei Jahre arbeitete er dort in der Küche eines russischen Restaurants. Erst war er nur der Tellerwäscher. Als er dem Chef das Geheimrezept jener Blinis verriet, mit denen seine Großmutter als junges Mädchen seinen Großvater verführt hatte, stieg er auf zum Sous-Chef. Er konnte ohnehin sehr gut kochen. Das hatte Smiljana auch immer gesagt. Dennoch war sie nicht mitgekommen, nach London. Hatte in der Heimat bleiben wollen. Sie starb im Schlaf. Plünderer hatten eines Nachts das Haus ihrer Eltern in Brand gesetzt.
Serge hatte alle ihre Briefe aufbewahrt. Sie lagen im Karton der englischen Schuhe, die er von seinem ersten Gehalt gekauft hatte.
Er liebte sein neues Leben. Doch irgendwann war das Heimweh größer. Er vermisste die Sonne und das Meer. In dem neuen Land waren alle freundlich zu ihm, aber niemand verstand ihn wirklich, keiner hier hatte einen Krieg erlebt oder eine Frau durch ein Feuer verloren. Also packte er wieder seine Koffer und machte sich auf den Heimweg.
Als Serge sein Grundstück nahe Zadar an der kroatischen Adria erreichte, wohnte ein fremder Mann in seinem Haus – ein Kroate. Da wusste er, dass nichts wieder so werden würde, wie es einmal war.
Der Kroate weigerte sich auszuziehen und das Haus frei zu geben.
Serge war müde und er hatte keine Lust auf einen Kampf.
Der Kirschbaum und die Möwe
Er hatte stets einen Kirschbaum in seinem Garten besonders geliebt. Sein Stamm und seine Äste waren so stark und von nichts aus der Ruhe zu bringen. Serge wünschte sich, so zu werden, wie er – stark und ruhig. Er zog hinauf in die Krone dieses Baumes.
Ein alter Bussitz diente ihm als Sofa, ein kleines Zelt wurde sein Schlafzimmer, einen Tisch und einen Spiegel holte er sich aus einer Kneipe in der Nachbarschaft.
Und wenn im frühen Sommer die Kirschen reiften konnte er sie mit ausgestrecktem Arm von seinem Bett aus pflücken.
Dana ist eine Möwe
Dana war ein Vogel, da war sie ganz sicher. Ihre Füße mochten den Boden nicht. Stets ging sie auf Zehenspitzen. Dabei schwang ihr langes helles Haar wie ein Umhang hinter ihrem Rücken. Manchmal trug sie hohe Schuhe. Hauptsache ihr Kopf war den Wolken näher. Am liebsten kletterte sie auf einen Felsen an der Küste. Dort schwebten die Möwen auf dem Wind. Sie tanzten und schrien. Dana lachte, wenn sie sah, wie der Sturm mit ihnen spielte und sie schubste. Sie wollte eine Möwe sein. Sie konnte genauso schreien wie sie. Doch wenn sie die Arme ausbreitete und auf die passende Brise wartete, fiel ihr Blick unversehens nach unten. Auf die Brandung und den dunklen Fuß des Felsens. Das machte ihr Angst.
Sie beschloss, auf den Bäumen zu üben. Der erste Baum war ein alter Apfelbaum. Der Stamm war das Schwierigste. Die Äste erklomm sie wie ein Eichhörnchen. Der Sprung tat an den Füßen weh und unwillkürlich ging sie beim Aufsetzen in die Hocke. Die Arme legte sie nach der Landung wieder dicht an. Sie war viel zu schnell wieder auf der Erde. Sie wünschte sich, den Moment zwischen Sprung und Landung auszudehnen.
Eines Tages kam sie an einem Garten vorbei, in dem ein wunderschöner alter Kirschbaum stand. Ehrfürchtig starrte sie in die üppige Krone. Als sie die reifen roten Kirschen sah, lief ihr das Wasser im Munde zusammen. Flink machte sie sich an den Aufstieg.
Oben angekommen entdeckte sie ein Sofa, auf dem ein Mann lag. Er trug Jeans und ein weißes T-Shirt. Sein schönes Gesicht strahlte große Ruhe aus.
Der Mann fragte Dana verwundert, wer sie sei.
„Ich bin Dana, die Möwe. Ich möchte auf deinem Kirschbaum das Fliegen lernen“, sagte Dana.
Etwas in Serges Inneren fiel an seinen Platz, als er dieses zarte Wesen sah, wie aus Licht gemacht.
„So lange du magst“, antwortete er und bot ihr Kirschen aus einer Schüssel an.
Den ganzen Nachmittag erzählten sie einander Geschichten, aßen Kirschen, spuckten die Steine hinunter in den Garten und lachten.
Eine Kurzgeschichte von Katja Pelzer © 2020