Ein Mann an einem Auto schaut auf ein flirtendes Paar
Literarischer Blog

Wie schaffen das die Schwäne?

Die Idee zu meinem Mehrgenerationen Familienroman „Wie schaffen das die Schwäne“, kam mir bei der Lektüre eines Zeitungsartikels in der Süddeutschen Zeitung. Demnach ist es gar nicht so ungewöhnlich, dass sich Paare heute oft aus Kostengründen nicht mehr räumlich trennen können. Stell Dir doch einfach mal selbst vor, Du trennst Dich, wohnst aber weiterhin mit Deinem Mann und Deinen Kindern in derselben Wohnung, weil ihr Euch keine zweite in der Preislage leisten könnt. Genauso geht es Hannah und Philipp in „Wie schaffen das die Schwäne“. Das nennen die beiden ganz erwachsen und vernünftig: Trennung unter dem gemeinsamen Dach. Ihre Kinder, Patrick und Lena, finden das einerseits beruhigend, andererseits megabescheuert. Es dauert nicht lange und es geht drunter und drüber in der Familie. Kostprobe gefällig? Dann hier

Kapitel 1 Wie schaffen das die Schwäne

Hannah hat schon dreimal gerufen. Aber Philipp und die Kinder lassen sich Zeit. 
Typisch! Denkt Hannah. Und meint vor allen Dingen Philipp.
Gleich sind die Spaghetti kalt. Wie lange, bleiche Würmer pappen sie aneinander in großen weißen Teignestern. 
Hannah kocht nicht unbedingt gerne, ganz anders als ihre Mutter, die sehr viel Zeit in aufwändige Gerichte investiert hat. 
Wenn Hannah sich dann doch mal an den Herd stellt, gibt sie sich trotzdem Mühe. Und dann möchte sie auch, dass es gewürdigt wird. Aber es schmeckt nun mal am besten frisch und heiß. 

Ihre Küche ist trotz Kochaktion schon wieder aufgeräumt und penibel sauber. Sie könnte hier problemlos vom Boden essen.
Aber Hannah sitzt am gedeckten Tisch.
Sie schon. 
Das Essen wird kalt.
Noch einmal ruft Hannah. Aber Philipp kriegt nichts mit.  Er hat seine Kopfhörer aufgesetzt, hört Musik und liest die Zeitung. 

Die Schüler streiken für das Klima, liest er. Sie ahmen Greta Thunberg nach. Diese junge Hoffnungsträgerin, die plötzlich jedes Magazin-Cover ziert. Als füllte sie ein Vakuum. Als hätte tatsächlich der ganze Globus auf dieses kleine schwedische Mädchen mit der großen Depression gewartet, das jetzt die Welt aus den Angeln hebt, wie vor ihr vielleicht noch Pippi Langstrumpf und die war ja nun eine Fiktion. Wenn auch eine sehr einflussreiche und zeitlose. Diese Greta jedenfalls ist real und jetzt sogar für den Nobelpreis nominiert. Das ist schon ziemlich abgefahren, wie dieses Mädchen nicht nur Schüler in aller Welt infiziert, sondern auch Politiker, Wissenschaftler und den Papst gleichermaßen in den Bann zieht. Alle sind diesem Mädchen dankbar. Es ist eine Art Erweckungsgeschichte. 

Lena ist wirklich goldig

Lena lässt sich seufzend neben Hannah auf den Esszimmer -Stuhl fallen. „Was gibt’s zu essen?“, fragt sie und schaut ihre Mutter erwartungsvoll aus großen, glänzenden braunen Augen an.
„Spaghetti Bolognese.“
„Oh super. Ich liiiiiebe Spaghetti Bolo“, sagt Lena und strahlt. „Ich weiß“, sagt Hannah lächelnd. 

Lena und Patrick sind noch nicht auf dem Ich-bin-Veganer-Trip. Zu den Fridays-for-Future-Demos gehen sie natürlich schon.
„Was bleibt uns denn anderes übrig?“, hat Lena ihre Mutter gefragt, als die wissen wollte, ob sie hingeht. „Das ist doch Gruppenzwang. Ich kann ja wohl schlecht allein in der Schule sitzen bleiben.“
Hannah betrachtet Lena. Sie ist wirklich zu goldig. Gerade fünfzehn geworden. Besteht nur aus zahnstocherdünnen Beinen und kastanienbraunen Haaren, die ihr bis fast zum Po reichen. Wenn sie als Familie irgendwo hingehen, sind alle Augen auf Lena gerichtet. Selbst als Mutter kann sie sehen, dass Lena hübsch ist. Sie schaut noch so unvoreingenommen, offen und neugierig auf die Welt. Dieses unschuldig Ungelenke, Ungekünstelte reißt an Hannahs Herzen.

Philipp braucht eine Extraeinladung

Philipp braucht eine Extraeinladung, die Hannah ihm genervt und persönlich überbringt.
Und auch dann kommt er nicht auf dem direkten Weg.
Er streichelt Lena über das Haar und sagt „Na, meine Süße.“

Patrick, Lenas großer Bruder, die gleichen dünnen Beine, die kastanienbraunen Haare natürlich wesentlich kürzer als sie, ist Schulsprecher, gerade siebzehn geworden und büffelt fürs Abi. Er ist vielseitig interessiert und neugierig. Derzeit ist sein Berufswunsch Journalist. Er saugt ständig Nachrichten in sich auf. Nicht einmal während er sich jetzt neben Lena niederlässt, löst er den Blick von seinem Handy.„Patrick“ sagt Hannah mahnend.
Für ihren Geschmack ist es viel zu viel Screen-Time. 
„Lass ihn doch“, sagt Philipp. Hannah verdreht die Augen. War ja klar, dass er ihr wieder in den Rücken fällt. Leistungsorientiert wie er ist. Hannahs Vater, Enno, war früher genauso. Die Messlatte liegt bei beiden übertrieben hoch. Hannah hatte schon als Kind immer das Gefühl, nicht zu genügen, egal was sie tat.

Jetzt summen die Stimmen durcheinander wie die Insekten in einem Bienenstock. 
Mit dem Essen ist Hannah nicht zufrieden, wie schon erwartet. Die Nudeln sind zu matschig und zu wenig gesalzen. Die Bolognese beim Warten ausgetrocknet. 
„Schmeckt’s?“, fragt Hannah in die Runde, obwohl sie sich die Antwort bereits selbst gegeben hat. Aber alle drei nicken mit über den Teller geneigten Köpfen und brummen etwas Zustimmendes. 

Hannah war joggen

„Wie war’s in der Schule?“, fragt sie weiter, als wollte sie ihre Familie sprechen hören. Als ertrüge sie die Ruhe rund um den Tisch nicht, die Philipp in guten Zeiten als „gefräßige Stille“ bezeichnet hätte.
Hannah ist selbst erst vor zwei Stunden von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte noch keine Zeit sie zu fragen, weil sie direkt in ihre Sportklamotten gestiegen und vor dem Kochen noch eine Runde gejoggt ist. 
Sie will auf keinen Fall zunehmen, jetzt, wo sie wieder einen Job hat und nicht mehr stundenlang im Fitness-Center trainieren kann. 

Patrick antwortet „gut“. Lena antwortet „gut“ und grinst mit dem Mund voller Spaghetti.

„Ich habe gerade über Greta Thunberg gelesen“, sagt Philipp unvermittelt.

„Die ist cool“, sagt Patrick.„Findest du? Na, ich weiß nicht, was ich von den Demos und vor allem den Schulstreiks halten soll“, sagt Philipp.

„Ist schon klar“, sagt Patrick. „Du bist ja auch nicht gerade ein Verfechter des grünen Lebens.“ 

Philipp liebt seinen BMW

Philipp schluckt eine strenge Antwort hinunter, obwohl er Patricks Ton unangemessen findet. Er will aber am Tisch keinen Streit. 
„Warum streikt ihr nicht einfach samstags? Dann verpasst ihr keinen Unterricht“, sagt er stattdessen. „Dann brauchen wir Eltern uns kein Programm für euch Kids zu überlegen oder mit euch shoppen gehen und furchtbar viel Geld dabei ausgeben. Das wären dann doch gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe!“ 
„Ne, klar! Das ist doch genau der Punkt. Wenn wir samstags streiken würden, würde es doch niemanden interessieren!“
„Also deine Mutter und ich sind niemals auf die Straße gegangen. Wir haben weder für noch gegen irgendetwas demonstriert. Und es ist nicht so, dass uns die Dinge egal waren.“ 

„Also ich hätte lieber Unterricht“, sagt Lena und schaut ihren Vater aus ernsten glänzenden braunen Augen an. „Ich glaube nicht an die Demos. Die anderen nehmen es doch eh nur zum Vorwand um blau zu machen und rumzualbern.“ Philipp schaut seine Tochter überrascht an und liebt sie für diesen Satz noch ein bisschen mehr. 

Diese ganze grüne Hysterie geht ihm irgendwie mächtig auf den Sack. 
Er ist stolz auf seinen BMW. Den glänzenden, makellosen schwarzen Lack. Er drückt gerne auf die Tube. Das ist für ihn Freiheit. Das sagt er natürlich nicht laut. Aber immerhin fliegt die ganze Familie gerne mehrmals im Jahr in den Urlaub. Vor allem Hannah hat das immer genossen. 
Das lassen sie sich nicht nehmen. Das kann doch keine Sünde sein. 

Glück ist keine Sünde. Man könnte ja genauso gut aufhören zu atmen. 
Leben bedeutet nun mal alles rauszuholen, Vermehrung. Möglichst von allem. Und wenn Philipp mal sparsam ist, dann nicht der Umwelt zu liebe. Mehr ist dann eben nicht drin. Für seine Lieben buckelt er jeden Tag. Es soll ihnen gut gehen. An nichts fehlen. Schön will er es ihnen machen. So schön es geht. „Verzicht und Lebensfreude das schließt sich doch aus“, das ist die Meinung, die Philipp auch seinen Freunden gegenüber vertritt. Und die meisten stimmen ihm zu. 

So schlimm wird’s schon nicht kommen mit dem Klimawandel. In diesem Punkt ist er sich mit Trump einig. Solange es im Winter so eiskalt wird, kann es mit der Erderwärmung nicht weit her sein.

„Die meisten meinen es schon ernst“, widerspricht Patrick und unterbricht damit Philipps Gedanken. „Deine Freundinnen vielleicht nicht“, fügt er an Lena gewandt hinzu. „Die schnallen ja eh nichts. Die sind zu sehr mit ihren Wimpern-Extensions beschäftigt und mit Nase bohren.“
Lena rollt die Augen und streckt ihrem Bruder die Zunge heraus.
Philipp hasst Streit beim Essen.„Und? Wie war’s bei der Arbeit?“, fragt er jetzt Hannah um vom Thema abzulenken. Er gibt sich interessiert, obwohl er nur mittelgut findet, dass Hannah wieder arbeitet. Irgendjemand muss sich schließlich um die alltäglichen Dinge kümmern. Auch für die Kinder war es schöner, als sie noch zu Hause war, wenn sie aus der Schule kamen, da ist er ganz sicher. 

„Das ist deine Meinung“, kontert Hannah, jedes Mal, wenn er das Thema anspricht. „Die Kinder beschweren sich nie, dass ich arbeite.“

Hannah ist Mädchen für alles in einem Büro. Früher hieß das „Sekretärin“, heute nennt man Frauen wie sie „Assistentin“. Albern findet Philipp das. „Dieser ganze Label-Wahnsinn! Der nimmt in letzter Zeit Überhand“, sagt er bei jeder Gelegenheit. Ha! Trennung, ist auch so ein Label. Wie das klingt, denkt Philipp in diesem Moment triumphierend. Nach etwas ganz Anderem als dem, was hier gerade abgeht.

Eine ganz normale Familie, oder?

Sie sitzen alle um den Tisch und essen gemeinsam, unterhalten sich. Eine ganz normale Familie, an einem ganz normalen Abend in einer ganz normalen Woche.„Alter“, sagt Patrick da unvermittelt. Eigentlich ruft er es eher. Philipp hat einige Zeit gebraucht, um sich bei diesem Wort nicht jedes Mal automatisch angesprochen zu fühlen. Mittlerweile erwischt er sich manchmal sogar selbst dabei, dass er „Alter“, sagt, wenn er sich mit seinen Freunden unterhält.

„Habt ihr das von dem Zikaden-Pilz gehört?“, das ist jetzt wieder Patrick. Und sofort hat er die Aufmerksamkeit von Eltern und Schwester. Er mag das. Kennt es aber auch nicht anders. Menschen hören ihm zu. Das ist einfach so. Vor allem die Mädchen. Es gibt gerade drei, die ihm immer ganz besonders gerne und andächtig zuhören. Und jetzt also seine Familie. Zumindest sein Vater und seine Schwester schauen ihn gespannt und erwartungsvoll mit fragenden Augen an.
Seine Mutter schüttelt den Kopf. Patrick kostet sein retardierendes Moment genüsslich aus.

„Die Zikaden sind von so ’nem Pilz befallen, der halluzinogene Wirkstoffe enthält, so wie Magic Mushrooms. Dadurch verlieren sie Glieder, Flügel und Geschlechtsorgane.“
„Ääääh“, sagt Lena. „Kannst du das bitte nach dem Essen erzählen?“ Sie schüttelt sich angewidert.
„Geht ganz schnell“, sagt Patrick. „Also bevor sie draufgehen, poppen sie noch schnell so viele andere Zikaden wie möglich. Dadurch verbreitet sich der Pilz immer weiter.“

„Man beachte, die interessante Wortwahl! Danke, für deinen überaus positiven und plastischen Beitrag zu dieser Essensrunde“, sagt Philipp. Aber irgendwie ist er auch stolz auf seinen Sohn, der sich für so vieles interessiert und unbedingt Journalist werden will. Das sagt er ihm bloß nicht.

Hannah ist in Gedanken bei ihren Eltern

Hannah reagiert nicht auf Patrick Anekdote aus dem Tierreich. Sie schaut ausdruckslos vor sich hin. Tatsächlich hat sie gar nicht richtig zugehört. Sie ist in Gedanken bei ihren Eltern. Gila, ihre Mutter, hat ihr heute Nachmittag am Telefon erzählt, dass Enno, Hannahs Vater, sich seit ein paar Tagen seltsam verhält. 

„Es ist eher so ein Gefühl in der Magengrube, weißt du, Kind!Es gab eigentlich nichts Besonderes, nur eben dieses komische Gefühl“, hat Gila gesagt. „Außer vielleicht, dass mich dein Vater einmal nicht erkannt hat. Ein anderes Mal war er wütend, weil ich angeblich weggegangen bin, ohne ihm Bescheid zu sagen. Was nicht stimmt!“, wie Gila beteuerte. „Ich sage immer Bescheid!“

„Mami, vielleicht ist das ganz normal. Das liegt sicher einfach nur am Alter“, hat Hannah gesagt. „Er wird halt vergesslich!“ Gleichzeitig schämte sie sich, dass sie nicht mehr auf ihre Mutter eingehen konnte. Sie hatten telefoniert, während sie noch bei der Arbeit war.
Ihre Mutter hat sofort protestiert: „Also normal finde ich das überhaupt nicht. Ich finde sein Verhalten seltsam!“

Als Hannah einhängte, hatte sie dann auch ein ungutes Gefühl. Sie kümmert sich gerade kaum um ihre Eltern. Sie hat ein schlechtes Gewissen. Gleichzeitig weiß sie nicht genau, wo sie auch noch Zeit für die Eltern hernehmen soll, neben der Arbeit und den Kindern. Wann sind ihre Eltern bloß so alt geworden? Es kommt ihr vor wie gestern, dass sie Kind war. Gut behütet. 

Gute Manieren waren den Eltern wichtig 

Bildung war den Eltern wichtig – gute Manieren auch. Ihre Eltern waren immer neugierig auf andere Länder gewesen und so hatten sie sich so ziemlich alles angesehen rund um den Globus haben sie sich gearbeitet, wie auf einer modernen bildungsbürgerlichen Grand Tour

Zunächst mit den drei Töchtern. Verrückt wie eng ihr Familienzusammenhalt einmal war. Niemand ist ausgebrochen. Dabei hat ihr Vater eigentlich immer den Ton angegeben. Es hat aber keines der drei Mädchen gestört und auch die Mutter nicht. So kam es Hannah jedenfalls vor. 
Gila hat Enno immer den Rücken gestärkt, obwohl sie selbst gearbeitet hat.

Als es jetzt so still wird bei ihnen am Tisch, fragt Hannah in das Schweigen hinein: „Möchte jemand Nachtisch? Es ist noch Eis im Tiefkühler.“

Philipp ist wieder einmal baff, in welch anderer Galaxie sich Hannah gerade meist bewegt. Sie ist seit Neustem mit dem Kopf scheinbar immer woanders. Früher war sie so klar und strukturiert. Da haben sie an einem Strang gezogen. Er fühlt sich jetzt immer so allein.

Er versucht, es mit Fassung zu tragen. 
Es bleibt beim Versuch. 
Aber die Kinder freuen sich und Patrick springt sofort auf, um das Eis aus dem Tiefkühler zu holen, was wiederum Hannah positiv auffällt. 
Er ist schon ein ganz besonders Wohlgeratener, ihr Patrick, stellt sie wieder einmal fest und lächelt. 

Kapitel 2 Wie schaffen das die Schwäne

Und trotz alle dem, sind sie seit einem halben Jahr getrennt, also Hannah und Philipp. „Glücklich getrennt“, wie Hannah ihren Freundinnen bei einem ihrer Kaffee-Treffs versicherte. Die Freundinnen nickten mit jeder Menge Zweifel im Blick, was aber Hannah nicht weiter beachtete. Sie wusste schließlich, was sie tat. Nicht wahr?

„Ich bewundere deine Disziplin“, sagte nur eine von ihnen mit Anerkennung in der Stimme.
„Danke“ sagte Hannah und fühlte sich verstanden. Wenigstens von dieser einen Freundin.
Die Disziplin allein macht Hannah den Spagat zwischen Familienleben und Trennung möglich. 
Disziplin ist ihr zweiter Vorname. 
Sie steht ihr ins Gesicht geschrieben. 

Hannah hat streng gezupfte, helle Brauen über sorgfältig geschminkten grünen Augen, lässt sich regelmäßig die Wimpern färben und gönnt sich Mani- sowie Pediküre.
Ihre beiden Schwestern machen sich manchmal darüber lustig, aber das perlt an Hannah ab. Sie sieht dafür auch viel gepflegter aus als die anderen beiden. Sie achtet auf ihre Linie, ist agil und zart. Dass sie dennoch nicht knabenhaft wirkt, verdankt sie ihrem wohlgeformten Busen, der sich auch jetzt, mit Mitte vierzig, nicht absenkt. 

Die Haare lässt sich Hannah alle zwei Monate hellblond tönen und trägt sie in einem akkurat geschnittenen Pagenkopf, etwa einen Zentimeter länger als Kinn lang. Hannah hat Philipp stets gefallen wollen und gut auf sich geachtet. 

Trennung ist das beste für alle

Manchmal fragt sie sich, ob bei Philipp der letzte Funke ihr gegenüber mittlerweile erloschen ist. Aber woran lässt sich das messen, wenn sie doch getrennt sind? Bei ihr jedenfalls war irgendwann das Bedürfnis ihm nahe zu sein, verschwunden. Das hat ihm nicht gefallen. Natürlich nicht. Kein Mann will von seiner Frau zurückgewiesen werden. Aber irgendwann ist es ihr regelrecht unangenehm gewesen, mit ihm zu schlafen. Ein tiefer Widerwille überkam sie, sobald er ihr seine Erregung gezeigt und sich abends oder auch morgens an sie gedrängt hat. 

Sie hat sich weggedreht und „jetzt nicht“ gemurmelt. 
Das „jetzt nicht“ hat sich schließlich über Monate und dann Jahre hingezogen. 
Sie haben sich dann ausgesprochen – Hannah und Philipp. Und sie waren sich einig, „Trennung ist das Beste – für alle Beteiligten.“ 
Den Kindern haben sie es da erst einmal nicht erzählt. 
Besser nicht.  

Hannah hat Philipp gebeten, sich eine Wohnung zu suchen. „Was denkst du dir? Zwei Wohnungen in dieser Preisklasse können wir uns beim besten Willen nicht leisten“, hat Philipp ihr empört entgegnet. 
Mal ganz abgesehen davon, dass er natürlich nicht dazu bereit ist, sich eine neue Bleibe zu suchen und sie auch noch einzurichten? Er hat die Wohnung bisher schließlich hauptsächlich finanziert. Hannah hat ja kein eigenes Geld mehr verdient, seit die Kinder da sind. Das hat er nur gedacht und nicht lauf ausgesprochen. Wozu schlafende Hunde wecken? 

Doch Hannah will ihr Zuhause genauso wenig aufgeben.„Außerdem ist für die Kinder einfach besser, ihre gewohnte Umgebung aufrecht zu erhalten“, hat sie gesagt. Das ist ihr in dem Zusammenhang besonders wichtig und sie wiederholt es bei jeder Gelegenheit, in der sie die Raumsituation besprechen.

Wer würde also verzichten? „Also, wer zieht aus?“, hat Hannah gefragt. „Die Kinder bleiben ja in den meisten Fällen bei der Mutter.“
Darüber hatte Philipp tatsächlich noch nicht so richtig nachgedacht.
„Es wird auch so gehen!“, haben sie nach vielem Hin und Her entschieden. Also, Hannah und Philipp. Vor allem Philipp. 
Die Kinder waren da erst einmal wieder beruhigt. Sie waren natürlich zunächst einmal schockiert gewesen, als Philipp und Hannah sagten „Wir müssen reden“. Dieser Satz weckt immer und in jedem die schlimmsten Befürchtungen. Und völlig zu Recht.

Alles halb so wild

„Mama und ich haben uns zwar getrennt, aber natürlich wird sich dadurch am Familienleben überhaupt nichts ändern. Versprochen!“, hat Philipp gesagt.
„Das ist unser aller Zuhause daran ändert sich nichts!“, hat er betont. 
„Und das ist für die Kinder ja auch das Wichtigste“, hat er zu Hannah gesagt.

 „Oder nicht?

 „Doch“, haben Hannah und Philipp beschlossen. Vor allem Hannah.
Das ist absolut das Wichtigste.
Also alles halb so wild in diesem Fall. 
„Wir hassen uns ja nicht“, hat Philipp unter vier Augen zu Hannah gesagt. „Wir sind einfach nur eine Wohngemeinschaft.“ 
Ohne Romantik. Gut befreundet vielleicht auch noch, ja. 
„Aber eben kein Liebespaar mehr. Und dadurch irgendwie auch kein Ehepaar“, hat Hannah gesagt.
Darüber sind sie sich dann doch wieder einig. Zumindest geben sie dem jeweils anderen gegenüber vor, es so zu sehen.
Hannah und Philipp nennen dieses in ihren Augen sehr moderne, erwachsene Arrangement, das Hannahs Freundinnen größtenteils anzweifeln: „Trennung unter dem gemeinsamen Dach“.

Kapitel 3 Wie schaffen das die Schwäne

Wann fing das eigentlich an?, fragt Hannah sich ständig. Findet aber keine zufrieden stellende Antwort.
Erst war da nur so ein undefinierbares, schwebendes Unwohlsein über Monate hinweg. 
Eine Art Fehl-am-Platz-sein im eigenen Leben. 
Ein Wegen-jeder-Kleinigkeit-aus-der-Haut-fahren.
Und nach jedem Aus-der-Haut-fahren schreckliche Schuldgefühle und das Bewusstsein, alles falsch zu machen. 

Jeden zweiten Tag fragt Hannah sich jetzt, wie sie dorthin gekommen sind. 
An diesen Ort in ihrem Leben. Der wie ein Raum auf sie wirkt, den eine gewisse Leere charakterisiert.
Eine Abwesenheit. 
Die Abwesenheit von etwas Abstraktem, das schwer zu benennen ist. Und doch fällt seine Abwesenheit auf. 
Es hat eine Zeit gegeben, in der Hannah das Gefühl hatte, ihr fehlte die Luft zum Atmen, wenn sie Philipp auch nur einen Tag nicht sehen würde. 
Und jetzt? 
Ist sie erleichtert, wenn sie ihn mal einen Tag nicht sehen muss. Jetzt ist sie die Erste, die aus dem Haus geht. 

Philipp macht dann für die Kinder und sich selbst Frühstück. Ach was, Frühstück. 
Er kocht sich einen Kaffee und den Kids stellt er Cornflakes, Zucker und Milch hin.
Lena und Patrick sind auf demselben Gymnasium und gehen gemeinsam los. 
Etwas später ist es dann auch Zeit für Philipp. Er arbeitet, seit ewigen Zeiten in einem Architektur- und Immobilienbüro. Wenn er die Wohnung verlässt, hat Hannah bereits den zweiten Kaffee gekocht für ihren Chef. 

Hannah passt dieses neue Leben noch nicht so recht. Wie ein Kleidungsstück, in das sie erst hineinwachsen muss. Noch ist ihr das alles eine Nummer zu groß. Aber das wird schon werden.
Sie muss sich einfach nur daran gewöhnen. An dieses neue Leben. 
Das sagt sie sich täglich und dann ist sie erst einmal beruhigt. 
Bis zum nächsten Zweifel.

Kapitel 4 Wie schaffen das die Schwäne

Es klingelt an der Tür. 
Enno ruft „Gila“. 
Gila antwortet nicht. Notgedrungen hievt er sich mit aller Kraft aus seinem Wohnzimmerohrensessel. Hier sitzt er am liebsten seit er pensioniert ist. Er war mal Schuldirektor. Von ganzem Herzen.

Gila war eine seiner Lehrerinnen. Eine verdammt gute. Überhaupt hat er Glück gehabt mit seiner Gila. Eine schöne Frau ist sie. Immer noch. Als junges Mädchen hat sie ihm komplett den Kopf verdreht. Es hat ihn heftig erwischt. Diese Zöpfe, diese Taille, dieser Gang wie eine Samba. Da war er eigentlich schon so gut wie verlobt gewesen mit einer anderen. 

„Ich bring mich um!“, hat die gedroht, als er ihr den Laufpass gab. 
Aber mit emotionaler Erpressung darf man Enno nicht kommen. Mit so etwas hat er nichts am Hut. Er ist bis heute sicher, sie wollte ihn nur erpressen und auf sich aufmerksam machen. Menschen, die ihrem Leben wirklich ein Ende setzen wollen, tun es ohne Warnschuss. 
Dass seine beinahe Verlobte bis heute in scheinbar zufriedener Ehe mit einem Anderen lebt, bestärkt ihn diesbezüglich. 

Enno und Gila hängen sehr aneinander und respektieren einander. „Das ist wichtig“, hat er seinen Töchtern beigebracht „Und die gute Kommunikation.“ Diese drei Grundzutaten sind für Enno das Geheimnis einer glücklichen Ehe. 

Auch Gila ist längst pensioniert. Drei Jahre nach Enno war es soweit. 

Sein Kopf ist in letzter Zeit komisch

Enno, anders als Gila, ist nicht mehr so schnell wie früher, aber immer noch gut zu Fuß. Er eilt den Flur entlang und schaut in alle Zimmer. Sein Kopf ist in letzter Zeit etwas komisch. Aber das ist wohl normal in dem Alter. Da macht er sich nicht so einen Kopf drüber und muss über die Formulierung beinahe lachen. Aber wo ist jetzt Gila wieder hin?

Dann sieht er den Zettel, der auf dem Küchentisch liegt: „Falls Du es schon vergessen hast: Ich bin einkaufen. Kuss Gila“. Den Kuss hat sie mit Lippenstift auf den Zettel gedrückt. Das macht sie jetzt immer so.
Da fällt es ihm wieder ein, dass sie einkaufen gehen wollte. 

Enno gelangt an die Wohnungstür 

Er gelangt schließlich reichlich zeitversetzt, an die Wohnungstür.
Davor steht ein Mann, der freudestrahlend „Guten Tag, Herr Gerstner“ sagt. 
Als Enno ihn nicht ebenso freundlich zurück grüßt und ihn tatsächlich nicht einmal erkennt, erklärt ihm der gänzlich fremde Mann: „Ich bin Herr Ernst, Ihr Nachbar aus der ersten Etage.“ 
Gila und Enno wohnen in der zweiten Etage. 

„Guten Tag, Herr Ernst“, sagt Enno.
„Ich ziehe gerade um“, sagt Herr Ernst. Er redet sehr schnell und Enno muss sich Mühe geben, dem hektischen jungen Mann zu folgen. 
„Ich habe einen Kühlschrank und eine Waschmaschine zu viel“, sagt Herr Ernst und Enno weiß nicht so genau, was das mit ihm zu tun hat. Er findet es nur mäßig interessant, aber er bringt alle erdenkliche Geduld auf und hört weiter zu. 
„Ich ziehe nämlich mit meiner Freundin zusammen“, erfährt nun Enno. „Mein Nachmieter zieht auch mit seiner Freundin zusammen. Und wir haben alle schon eine Waschmaschine und einen Kühlschrank.“ 

Enno nickt und versteht nicht.

„Können Sie vielleicht eine Waschmaschine und einen Kühlschrank gebrauchen?“, fragt Herr Ernst schließlich. Enno denkt ein wenig nach und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass wohl jeder Mensch eine Waschmaschine und einen Kühlschrank gebrauchen kann. Also nickt er wieder.
Herr Ernst scheint erfreut. „Für zweihundert Euro können Sie beides haben“, sagt er. Zweihundert Euro sind ja nun wirklich nicht zu viel für eine Waschmaschine und einen Kühlschrank, findet Enno. Also nickt er noch einmal. 

Eine Waschmaschine und ein Kühlschrank

Er geht in sein Schlafzimmer und holt zweihundert Euro aus der Schublade, in der er seine Wertsachen aufbewahrt.
Die zweihundert Euro zählt er dann Herrn Ernst mit großer Geste in die Hand. Es muss schließlich alles seine Richtigkeit haben.
„Danke sehr“, sagt Herr Ernst.
„Danke auch“, antwortet Enno nun freundlicher.

Herr Ernst lässt beide Geräte von den Umzugshelfern der Spedition nach oben zu Enno und Gila tragen und die beiden Helfer stellen Waschmaschine und Kühlschrank im Flur ab. Enno weiß gerade nicht, wohin damit. 
Sie haben ja bereits eine Waschmaschine und einen Kühlschrank, wie ihm jetzt auffällt. Und beide Geräte stehen in der Küche und zwar so, dass die Küche ziemlich gut gefüllt ist. Dort passen also die Waschmaschine und der Kühlschrank von Herrn Ernst nicht hin. Das macht Enno nachdenklich und ein wenig müde. Kurz setzt er sich daher an den Küchentisch und denkt nach. Eine Antwort findet er nicht. Aber das eilt ja auch nicht. Gila wird schon wissen, was zu tun ist. 
Irgendwie wird es ihm jetzt dann aber zu eng und zu still in der Wohnung. 
Besser er geht mal an die frische Luft, dann vergeht vielleicht auch die Müdigkeit wieder.

Kapitel 5 Wie schaffen das die Schwäne

Kalt greift die Furcht nach Gilas Eingeweiden. Als sie vom Einkaufen nach Hause kommt, steht die Wohnungstür offen. Nicht Ich-bringe-mal-eben-den-Müll-raus offen. Nein, sperrangelweit offen. Räumt-mir-gerne-die Wohnung-aus-sperrangelweit offen.

„Enno?“, ihre Frage schallt mit drei Frage- und drei Ausrufezeichen durch den Eingangsflur. 
Doch es kommt keine Antwort. Stattdessen versperren ein Kühlschrank und eine Waschmaschine den Eingangsbereich. 
Nicht ihre, das sieht sie auf den ersten Blick. (…)

©Katja Pelzer 2021

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