Mia am Meer
Nordsee-Luft für die Seele. Eine Falltür auf dem Kapitänsfriedhof. Eine Reise ins 18. Jahrhundert. Mia am Meer ist eine Liebes-Geschichte über Verlust, Realitätsflucht und die Bürde weitermachen zu müssen, wenn man seine große Liebe verloren hat. Es ist aber auch eine Geschichte darüber, dass das Gute manchmal das ganz Offensichtliche ist.
Zwei Jahre ist es her, dass Mia Fontelli ihren Mann Thom verloren hat. Bei der Kur auf einer Nordseeinsel will sie sich von der Arbeit an ihrer Seele erholen. Sie atmet endlich wieder auf. Was sie dabei erlebt, übersteigt ihre kühnsten Fantasien. Durch Zufall entdeckt sie auf dem Insel-Friedhof einen Tunnel, der in eine längst vergangene Welt führt. Am anderen Ende erkennt Mia, dass sie noch immer von ganzem Herzen lieben kann.
Leseprobe Mia am Meer:
(…) Kapitel 3
Günther Mondric war von all den alten Krücken auf der Insel noch die lustigste. Er kam aus dem Ruhrgebiet und seine zauseligen weißen Haare und der Schnauzer gaben ihm etwas Spitzbübisches. Auch legte er seine üppige Körpermasse nicht, wie viele Mitpatienten, allabendlich auf der großen Couch vor dem Fernseher ab. Die meisten taten das ohnehin nur, um sich über all das Elend auszutauschen und auch weiterhin nichts zu tun, um diese Erde durch ihre Gegenwart auch nur einen Deut angenehmer zu machen. Da war Günther Mondric Mia bei weitem lieber. In ihm loderte noch ein Feuer. Der alte Gockel machte einer rüstig wirkenden Asthmapatientin den Hof. Abends sah Mia sie häufig in einem Strandcafé sitzen, direkt neben ihrem Hotel. Dort genossen die beiden ein paar Bierchen zum Sonnenuntergang und hielten sich an den Händen. Günther war überhaupt noch gut auf den Beinen. Der Rücken ziepte zwar und die Bandscheiben kullerten nur so, wie er sagte, aber das hielt ihn nicht von kilometerlangen Strandspaziergängen ab. Einmal fragte er Mia, ob sie Lust hätte, ihn zu begleiten. Und das tat sie. Er wollte wissen, warum sie hier war. Und sie erzählte ihm alles.
„Ach Mädchen, für so viel Kummer sind Sie doch noch viel zu jung!“
„Das Schicksal richtet sich nicht nach dem Alter!“
„Das nicht, aber Sie wollen doch auch noch keine gramgebeugte Alte sein. Dagegen können Sie was tun.“
„Was denn?“, fragte Mia leise.
„Meine Berta ist jetzt schon zwanzig Jahre tot. Und ich glaube nicht, dass irgendwem damit geholfen wär’, wenn ich ewig um sie trauern würde. Was sie für mich war, geht nie weg. Aber ich bin noch hier und muss weitermachen.“
Austernfischer zetern
Ein Austernfischer, der vor ihnen im Watt auf und ab stolziert war, brach plötzlich in lautes Gezeter aus. Sein Schnabel glänzte rot, als hätte er ihn gerade in Nagellack getaucht. Günther Mondric schaute den zeternden Vogel amüsiert an. Dann zog er sein Smartphone aus der Hosentasche und machte typische Wischbewegungen. „Find’ mal den Vogel da“, sagte er und zeigte auf die Liste in seiner Vogel-App. „Ich hab’ meine Lesebrille vergessen.“ Er zuckte entschuldigend die Schultern. Mia beugte sich über das Gerät. Eigentlich boykottierte sie die Dinger. Sie tippte auf den Austernfischer mit seinem gebogenen roten Schnabel, den roten Beinen und dem schwarz-weißen Gefieder und aus dem Telefon erklang das vertraute Keckern. Der Austernfischer am Strand hob seinen Kopf, wiegte ihn hin und her und fing dann an, noch lauter und empörter zu Zetern. „Wie gemein!“ sagte Mia und stieß Günther ihren Ellbogen in die Seite. Ein zweiter Austernfischer landete und stimmte in das zweistimmige Geschimpfe ein. Mia machte fast in die Hose vor Lachen und musste sich an Günther festhalten, der sich ebenfalls seinen Bauchansatz hielt.
Mia am Meer
Kapitel 4
Menschen sterben. Ununterbrochen. Unangekündigt, einfach so. Aber warum dieser? Er war doch ihr Mann gewesen.
Die spanische Polizei wusste nicht, ob es ein Unfall gewesen war. Und Mia wusste nur, dass Thom nicht mehr glücklich gewesen war. Schon lange nicht mehr. Aber war die Abwesenheit von Glück ein Grund zu gehen?
In die Tage nach Thoms Tod drang kein Licht. Mia wusste schon beim Aufwachen nicht, was sie mit sich anfangen sollte. Warum sollte sie aufstehen? Das Grün der Bäume war ohne Farbe. Das Grün der Ampeln dagegen so grell, dass es sie blendete. Sie roch nichts, alles schmeckte nach nichts. Der Schmerz ihrer verlorenen Liebe war körperlich. Sie wand sich wie ein verwundetes Tier. Sie wollte, dass der Schmerz aufhörte. Sie wollte, dass es wieder schön war zu leben.
„Sie sind nur für sich selbst verantwortlich“, sagte Stefanie Berenboom, ihre Therapeutin. „Schuldgefühle entstehen aus unseren Gedanken. Zuerst sind da die Hirngespinste, dann erst die Gefühle.“ Aber obwohl sie das verstand und sogar lebte, bedeutete das nicht, dass sofort alles wieder gut war. Überhaupt nicht.
Mia wusste nicht, wie sie jemals ins Leben zurückfinden sollte, wenn der Mann, der alles für sie gewesen war, nicht mehr bei ihr hatte sein wollen.
Mia am Meer
Kapitel 5
„Mädchen, Sie sehen heute aber schon viel besser aus!“ Das war wieder einmal Günther Mondric, der Mia das zurief. Als sie von einer ihrer Fahrradtouren zurückkam, saß er im Strandcafé, dieses Mal ohne seine Bekannte. „Setzen Sie sich doch zu mir, ich fühle mich so allein“, er zwinkerte ihr fröhlich zu.
Mia parkte ihr Fahrrad und schloss es ab.
„Ich war heute in Nordblum auf dem Friedhof“, sagte sie, während sie sich setzte.
Günther schüttelte den Kopf.
„Na, Sie machen Sachen! Kümmern Sie sich mal lieber um die Lebenden. Beispielsweise um so’n alten Mann wie mich.“
„Als Ihre Berta gestorben ist, wie haben Sie danach weiter gemacht?“, fragte Mia ihn.
„Na, ich bin morgens aufgestanden, hab mir eine Stulle mit Butter gemacht und einen Kaffee und dann hab ich Gott gedankt, dass ich sie wenigstens für die zwanzig Jahre haben durfte, die wir verheiratet waren. Manch einer findet doch nicht mal den Menschen, mit dem er es ein Jahr aushält.“
Mia schaute aufs Meer.
„Aber das tut doch umso mehr weh, wenn man so einen Menschen dann verliert.“
„Mag sein, aber ändern können Sie es auch nicht. Ich sag mir immer, was du nicht ändern kannst, damit halt dich nicht auf. Also versuch ich, das Gute zu sehen, das wir zusammen hatten.“
„Aber dann leben Sie doch immer in der Vergangenheit!“
„Ich bin ja nun schon ein bisschen älter als Sie, und Sie können mir glauben, dass es jeden Tag leichter wird, weiterzumachen.“
„Aber ich weiß nicht, warum ich weitermachen soll. Wenn ich nicht so feige wäre, wäre ich auch schon längst gesprungen.“
„Was für ne Verschwendung“, sagte Günther und schüttelte sein weißes Haupt.
Mia am Meer
Kapitel 6
Die Landschaft war am Morgen wie verwischt. Die Warften der Hallig – wie Schemen nur.
Mia liebte das Kommen und Gehen des Meeres. Sie fühlte sich klein, aber irgendwie auch zugehörig zu dieser allmächtigen Natur. An die etwas langsame, manchmal recht ruppige Art der Inselbewohner hatte sie sich schon gewöhnt.
Matts, der Therapieassistent mit den braunen Haaren, die erstes Grau zeigten, entschuldigte sich. „Ich kann Ihnen kein Meerwassersprudelbad anbieten. Die Sprudelanlage ist kaputt und ich weiß nicht, ob wir das Ersatzteil vom Festland brauchen. Wenn ja, dann ist das frühestens am Montag da.“ Seine kindlichen blauen Augen schauten schuldbewusst.
Mia wusste nicht, ob der Mann eine Antwort erwartete. Sie hatte jedenfalls keine parat, also schwieg sie.
„Sie können aber ein Meerwasserbad ohne Sprudel haben“, setzte er hinzu.
Zwanzig Minuten lag Mia daraufhin in der Badewanne in warmem, salzigem Wasser in einem stillen dunklen Raum im Souterrain. Auf der Fensterbank stand eine Skulptur, eine Ballerina aus Bronze. Mia betrachtete die grazilen Arme, die elegante Beinhaltung. Alles schlicht und schön und so zerbrechlich wie das Leben.
Mia ließ sich in die Wärme des Wassers hineinsinken und schlief ein.
Sie lag in ihrem Bett. Neben ihr lag Thom. Sie schauten sich an, nichts sonst. Das hatten sie oft getan. Es hatte gereicht um das Band von ihrem zu seinem Körper zu spannen. Gerade fragte sie sich, was aus dem Band würde, wenn einer von ihnen fort ging. Da klopfte es. Sie wunderte sich, denn ihre Schlafzimmertür war immer zur Küche hin offen. Und wer sollte da klopfen?
„Alles in Ordnung mit Ihnen?“ fragte Matts, der Therapieassistent auf der anderen Seite der Tür. Und am liebsten hätte Mia „Nein“, gesagt. Aber sie sagte „ja“.
„Tupfen Sie sich einfach nur ab und lassen Sie bitte das Wasser aus der Wanne“, sagte daraufhin der Therapieassistent durch die Tür hindurch. Und Mia gehorchte.
Mia am Meer
Kapitel 7
In der Strandbar spielte an diesem Abend eine Beatles-Cover-Band. Mia saß allein im Sand, hörte zu und sang leise mit. Dabei schaute sie hinaus aufs Meer. Der Sand war kühl, aber das machte nichts. Die Schönheit des Abends wärmte sie. Es war beinahe Flaute. Eine Gruppe von Windsurfern war noch auf dem Wasser. Sie bewegten sich lautlos, wie in Zeitlupe – ein Ballett orange-schwarz-gestreifter Schmetterlinge. Hier im Norden kam die Nacht später und auch langsamer. Allein dafür liebte Mia die Insel. Sie schaute hinüber zum Festland und hatte das Gefühl, dass sie bereits in dem Moment, indem sie die Fähre bestiegen hatte, ziemlich viel Ballast abgeworfen hatte. Wie hatte der Stadtführer doch gleich gesagt? „Der Vorteil an der Insel ist die Fähre zum Festland. Und der Nachteil der Insel ist die Fähre zum Festland.“ Mia lächelte.
Auf sie übte das Festland jedenfalls keinerlei Anziehung mehr aus. Es erschien ihr mit einem Mal komisch, dass es Festland hieß. Hier auf der Insel fühlte sich der Boden unter ihren Füßen viel fester an.
Mia am Meer
Kapitel 8
Matts, der Therapieassistent entschuldigte sich. Nun hatte die Meerwasserpumpe den Geist aufgegeben.
„Ich kann Ihnen heute kein Meerwassersprudelbad anbieten“, sagte er und wirkte etwas zerknirscht. Mia fragte sich, ob sie jemals in diesen Genuss kommen würde und entschied sich für eine Meerwasserinhalation. Sie setzte sich an das vorgesehene Waschbecken und hielt sich das Endstück des Schlauchs unter die Nasenlöcher. Prickelnd strömte salziger Nebel in ihre Nebenhöhlen.
Thom hätte sie in einer solchen Situation sicher ausgelacht, zumindest in der Zeit, als es ihm selbst noch gut gegangen war, vor der Sache in Afghanistan. Er hätte sie wohlmöglich gefragt, warum sie nicht einfach raus ging an den Strand, spazieren, schließlich war die ganze Insel eine einzige Meerwasserinhalation. Vermutlich hätte sie ihm Recht gegeben und ihre Neugierde vorgeschoben. Berufskrankheit. Curiosity killed the cat war zu Studienzeiten eine ihrer Lieblingsbands gewesen. Und was hatte sie jetzt noch zu verlieren? Sie konnte sich jede Menge Neugierde erlauben. Im schlimmsten Fall würde sie ihr Leben verlieren. Aber das hatte sie ohnehin schon – an jenem Tag im September, oben auf der Klippe.
Als sie die Klinik verlassen wollte, saß auf der Ledercouch vor den Massageräumen Günther und wartete darauf, dass Frau Olsen ihn aufrief. Er schaute Mia prüfend an.
„Mädchen, haben Sie schlecht geschlafen? Sie sehen ja ganz grau aus!“
„Ach, nein, geschlafen habe ich wie ein Stein. Die Luft hier macht einen ja total fertig. Ich lese zwei Seiten in meinem Buch und es fällt mir aufs Gesicht.“
„Sind es die alten Gespenster?“
Mia nickte und plötzlich strömten Tränen über ihr Gesicht. Ihr Körper bebte unter Schluchzern.
„Hach, hach, Mädchen, na na…“, Günther stemmte seinen Leib mühsam aus dem Sofa und nahm sie in den Arm. Mia schüttelte den Kopf, konnte aber nicht aufhören zu weinen.
Günther bringt Mia zum Lachen
Günther strich über ihre schwarzen Locken und wiegte seinen breiten Oberkörper.
„Noch immer nicht besser, was?“
Mia schüttelte den Kopf und ein tiefer stotternder Schluchzer kam statt einer Antwort aus ihrer Kehle.
Er schaute sie mit seinen Spitzbubenaugen fest an.
„Das wird wieder, versprochen! Und wo wir uns jetzt schon so herzlich umarmen, können wir uns genauso gut duzen. Was hältste davon?“
Mia lachte unter Tränen und sagte „Ist gut.“
Frau Olsen machte sich mit „Moin, moin“ bemerkbar. Mia löste sich von Günther. Sagte „Danke“ und ging drei Kilo leichter ums Herz die Treppe hinauf. Hinaus an die Inselsonne.
Lichtflecken in einem Flüsschen. Moosiges Grün auf braunem Grund. Sonnenblumenfelder. Sommerwiesen mit gelben, blauen und roten Blütentupfen. Das Blau eines Pools. Allmählich erkannte Mia Farben wieder als Farben. Sie sog alles in sich auf, wie Nahrung.
Mia am Meer
Kapitel 9
Eigentlich hatte Mia gar nicht heiraten wollen. Wozu? Sie wusste doch, was sie für Thom fühlte und er für sie. Daran gab es für sie nicht den geringsten Zweifel, nie. Aber er wollte es: „Damit du dich sicher fühlst und weißt, wo du hingehörst.“
Dabei war er es, der sich sicher fühlen wollte, das war ihr klar. Und deswegen sagte Mia „ja“. Denn sie wollte, dass er sich sicher fühlte. Am Tag ihrer Hochzeit war Sommer wie es nur Sommer sein konnte. Das Licht zu hell für das bloße Auge. Der Himmel aus dunkelblauem Lack, hochglanzpoliert. Und die Luft schwer vom süßen Parfüm der Linden. Auf dem Standesamt sagte sie noch einmal „ja“. Ein „Ja“ wie ein tiefer erleichterter Seufzer. Erleichtert, weil sie Thom gefunden hatte. Seufzer, weil sie ihn so sehr meinte. Sein „Ja“ war froh, unterstrichen von seinen lächelnden braunen Augen. Anschließend luden sie zwanzig Gäste zu einem guten Essen in ihr Lieblingsrestaurant ein. Und danach, am späten Nachmittag, begann ihre Hochzeitsnacht, die bis in den frühen Morgen dauerte. Mia wischte sich eine Träne aus dem linken Augenwinkel. Außer mit ihrer Therapeutin mochte sie ihre Trauer mit niemandem teilen.
Auf der Insel war der Heiratsmarkt übersichtlich. Es hieß, dass die Ehen von langer Hand durch Eltern eingefädelt wurden. Es war eher ein Handel als eine Herzensangelegenheit. Das erzählte Günther Mia. Und Günther hatte es von einer Therapeutin gehört, die schon lange auf der Insel arbeitete. Für das Eheglück war diese Vorgehensweise nicht zuträglich. Viele Insulaner hatten Affären, sagte Günther, sage die Therapeutin. (…)