Die Blumenfrau
Das letzte Mal, dass ich sie sah, ist gefühlt zwei Sommer her. Vielleicht war es aber auch nur ein Sommer. Zeit ist so relativ, flüchtig sowieso.
Ich nannte sie immer nur die Blumenfrau. Ihren Namen kannte ich nicht. Dennoch war sie jahrzehntelang ein Teil meines Lebens.
Wenn ich zu meinen Eltern radele (ein Auto habe ich schon viele Jahre nicht mehr), benutze ich von jeher den Radweg des ziemlich frequentierten Kaiser-Friedrich-Rings in Düsseldorf-Niederkassel. Und neben diesem Radweg stehen unterschiedliche Frauen mit ihrem Gemüse oder ihren Blumen und bieten sie feil. So auch meine Blumenfrau.
Sie war gestürzt
Bei dieser letzten Begegnung mit ihr, vor ein oder zwei Sommern – sie war mittlerweile weit über achtzig – war sie zuvor gestürzt. Sie saß, gewandet in ihren grauen Arbeitskittel im Kofferraum ihres Kombis und wirkte geknickt, noch kleiner und zarter als sonst. Sie hatte sich den Arm gebrochen bei ihrem Sturz.
Neben ihr saß ihre Tochter. Sie half beim Herausziehen der Pfingstrosen aus dem Eimer, beim Einschlagen in Zeitungspapier und beim Kassieren. Tatsächlich sprach sie bei diesem letzten Mal auch fast vollständig für ihre Mutter. Als ich die Blumenfrau fragte, wie es ihr ginge, sagte sie etwas kläglich: „Nicht so gut.“
Die Tochter erzählte mir dann mit sorgenvollem Blick vom Sturz ihrer Mutter und man spürte, dass es ernst war.
In all diesen Jahren seit ich sie kannte, hatte die Blumenfrau auf meine Frage, „Wie geht es Ihnen?“, niemals etwas Anderes geantwortet als: „Mir geht es gut.“ Normalerweise sagte sie noch mit ihrer heiseren, von Düsseldorfer-Platt gefärbten Stimme. „Wissen Sie, die Blumen machen mich so glücklich. Nach dem Aufstehen gehe ich in den Garten und dann begrüßen sie mich schon mit ihrem Duft und ihren Farben. Ich brauche sonst nichts zum Glücklich-sein.“ Während sie das sagte, leuchtete das Himmelblau ihrer Kinderseelenaugen noch etwas himmelblauer und sie strahlte mich so herzlich an, dass auch mir unter diesem Strahlen ganz warm ums Herz wurde.
An dem Sommertag uns bis in den Herbst
Sie stand an jedem Sommertag bis in den Herbst hinein am Rande des Kaiser-Friedrich-Rings und verkaufte ihre schönen Blumen. Und immer ging diese stille, aber starke positive Energie von ihr aus.
Manchmal, wenn ich vorbei radelte, war sie bereits ausverkauft, manchmal war sie auch schon weg. Doch wenn ich rechtzeitig bei ihr war, kaufte ich einen schönen Strauß Pfingstrosen oder was sonst an Blühendem gerade Saison hatte, für meine Mutter. Manchmal plauderten wir dann ein wenig. Und sie fragte auch, was man selbst so mache. Das erzählte ich ihr dann.
Die kleine Blumenfrau war einer der authentischsten Menschen, dem man in dieser stellenweise sehr oberflächlichen, äußerlichen Stadt begegnen konnte.
Vor vielleicht zehn Jahren fragte ich die Blumenfrau, ob ich eine Fernseh-Reportage über sie machen dürfte. Da wurde sie für einen Moment recht reserviert und ablehnend. Sie wand sich sehr unter dieser Frage, sie war ihr sichtlich unangenehm. Sie sagte dann auch sehr deutlich und lauter als gewöhnlich Nein.
Das fand ich schade, weil ich ja wusste, was sie alles hätte erzählen können, über ihre Blumen, unsere Stadt, die Natur und überhaupt, das Leben, aber natürlich respektierte und akzeptierte ich ihre Antwort.
Wicken für meine Mama
Als ich kurz darauf wieder bei ihr anhielt, um einen Strauß Blumen für meine Mutter zu kaufen, ich glaube es waren Wicken, da fragte sie empört, ob ich ein Fernseh-Team zu ihr geschickt hätte. Was ich verneinte, denn ich hatte tatsächlich nichts damit zu tun. Ich ärgerte mich über die Kollegen, die sie offenbar ohne vorher zu fragen „überfallen“ hatten. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, obwohl ich nichts dafür konnte, aber ich schämte mich für meine Zunft. Und es verletzte mich ein wenig, dass die Blumenfrau mir zutraute, dass ich gegen ihren Willen so etwas tun würde. Das würde ich nämlich niemals! Das ist überhaupt nicht meine Art.
Für kurze Zeit schien unser Verhältnis durch diesen Vorfall getrübt. Irgendwann aber wuchsen Gras und Blumen darüber und sie begrüßte mich wieder so Freude strahlend und beseelt wie eh und je.
Der schwierige Frühling 2020
Dann kam dieser ohnehin schwierige Frühling und Sommer 2020. Und meine Blumenfrau war nirgends zu sehen. Ich dachte jedes Mal an sie, wenn ich zum Zuhause meiner Kindheit radelte um meine Eltern zu besuchen. Was jedes Wochenende geschieht in diesem Jahr.
Mein komisches Gefühl im Magen versuchte ich noch im Mai zur Pfingstrosenzeit damit fortzuwischen, dass ich mir sagte, sie wage sich vielleicht wegen Corona nicht hinaus und an den Straßenrand.
Meine Pfingstrosen kaufte ich dann zum ersten Mal in meinem Leben nicht bei meiner Blumenfrau, sondern bei einer anderen Verkäuferin, die an einer anderen Stelle ihre Blumen feil bot.
Je älter das Jahr 2020 wurde, desto größer wurde die traurige Gewissheit, dass sie nicht mehr da war.
Gestern erzählte mir dann eine Freundin meiner Eltern, eine weitere Kundin und ebenfalls ein großer Fan der Blumenfrau, dass sie gestorben sei. Die Freundin meiner Eltern kannte im Gegensatz zu mir, den Namen unserer Blumenfrau und hatte ihre Todesanzeige in der Zeitung gesehen. Sie sei zudem schon lange sehr krank gewesen. Und ohnehin ja weit über achtzig.
Die Blumenfrau war eine Institution
„Sie war eine Institution“, sagte die Freundin meiner Eltern. Und ich nickte traurig.
Ja, sie war eine Institution. Und ein Original. Sie war eine der letzten ihrer Art. Voller Respekt gegenüber der Natur und ihrer Schönheit. Gleichzeitig ein freundlicher, höflicher, leiser Mensch im lauten, gekünstelten Tosen unserer Zeit.
Ich vermisse sie sehr, meine kleine Blumenfrau, denke aber auch voller Dankbarkeit an sie. Und ich wünsche mir, dass sie weiß, dass wie hier unten sehr traurig sind, dass sie nicht mehr da ist und dass sie unvergessen bleiben wird.