Ein Schokoladenweihnachtsmann steht Kopf im Butterfach im Frühling
Kurzgeschichte

Ein Weihnachtsmann im Frühling

Es ist kalt, eiskalt. Da nützt auch der rote Mantel aus Stanniolpapier nichts, den der Weihnachtsmann trägt. Denn der Weihnachtsmann steht Kopf im Kühlschrank – genauer gesagt, im Butterfach – und das mitten im Frühling. Da kommt der Kakaokerl mächtig ins Grübeln. Ganz einsam fühlt sich sein Schokoladenherz. Ehrlich gesagt, ist ihm nachgerade zum Heulen. Denn er wurde vergessen.

Wochen und Monate sind seit dem Fest der Liebe ins Land gegangen. Erst ist der Winter gewichen, dann haben die Bäume Knospen getrieben und längst sind diese erblüht.
Die Kühlschranktür ist in der Zwischenzeit ungezählte Male auf und kurz darauf wieder zu geklappt.
Die behaarte Hand, die hereinschaute, griff nach Käse oder Senf und auch schon mal ganz dicht – welch’ eine Aufregung! – an ihm vorbei… nach der Butter.
Nicht er war gemeint, nein. Wieder nicht er.

Es begann alles so vielversprechend

Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen.
Weihnachten hatte der Schokoladenweihnachtsmann als Überraschung auf dem Teller gelegen und auf seinen großen Auftritt gewartet.
Sein roter Mantel leuchtete.
Der weiße Bart war frisch gekämmt.
Die schwarzen Stiefel fein poliert.
Auf dem Kopf trug er eine fesche Mütze mit einer dicken Quaste. Bepackt war er mit einer golden glänzenden Trompete und vielen bunten Paketen.
Und er hatte eine Mission: Freude wollte er bereiten.

Doch vergeblich wartete der Weihnachtsmann auf Kinderlachen und begeisterte Rufe. Wo blieben die großen, frohen Kinderaugen, die bei seinem Anblick glücklich aufleuchten würden wie Kerzenflammen? Zermalmt zwischen Milchzähnen hatte er den Sinn seiner Existenz vollenden, hier hatte er dahinschmelzen wollen.
Aber nichts dergleichen geschah an jenem Heiligen Abend. Zwei kalte graue Erwachsenenaugen blickten ihn gelangweilt an.
Demütigend gelangweilt geradezu.

Er landete in einer dunklen Tasche

Kurz darauf landete er in einer düsteren Tasche, wurde hin und her geruckelt, bis ihm schlecht war.
„Schlimmer kann es nicht werden“, dachte er unter Würgen. Doch. Es konnte.
Denn kurz darauf wurde er in diesem dunklen Kühlschrank gesperrt.
Die ersten Stunden brachte er neben einem nackten, rosa Puter zu. Unzumutbar grässlich. Er war der Ohnmacht nahe. Später hatte ihn der Mensch dann ins Butterfach gestopft. Neben eine Tube verfallenen Meerrettich.
„Auch Ausschuss, wie ich“, dachte der Kakaokerl voller Bitterkeit.

Pillen und Dragees waren die Nachbarn des Weihnachtsmanns

Außerdem waren da noch jede Menge Pillen und Dragees in seiner nächsten Nachbarschaft. Doch mit diesen grellbunten Gesellen, die in Glasfläschchen wohnten und pausenlos plapperten, konnte er nun gar nichts anfangen. Die palaverten permanent über ödes Zeug wie Zahnschmerz oder Vitaminmangel. Auf ihn wirkte das eher wie Schlafpulver. Und während die runden einfältigen Dinger eifrig sprudelten und von besonders herben Fällen auf ihrem jeweiligen Anwendungsgebiet zu berichten wussten, drückte sich der Weihnachtsmann immer tiefer hinein in das Butterfach und verzweifelte im Stillen über sein verdrehtes Schicksal.

So zogen Wochen und Monate dahin, wie eine Wanderung durch endlose Wüste. Zum Frust gesellte sich die Schwermut. Ein Stück Butter kam, schmolz und war weg.
Das Vitaminpräparat fand reißenden Absatz und der Schokoladenmann fühlte sich immer sinnloser.
Mittlerweile ist Mai. Und der Weihnachtsmann ist noch immer in diesem dunklen Kühlschrank gefangen.

Mitten im Frühling

Dann, eines Tages, vernimmt er Unruhe in der Wohnung. Gelächter ist zu hören.
Die Kühlschranktür klappt auf und wieder zu.
Die Hand taucht an ihm vorbei, greift Wein, Brot, Butter, Wurst, Käse.
Das Licht kommt und geht.
„Besuch“, schießt es dem Kakaokerl durch den Kopf. Eine Bekannte mit ihrem siebenjährigen Sohn ist zu Gast. Freudiges Zittern umtanzt das Schokoladenherz. Aufgeregt lauscht es in die Küche. Die Menschen dort erzählen, sie scherzen. Es gibt Gelächter und fröhliche Rufe.
Der Junge tobt durch die Zimmer.
Manchmal gibt’s ein Poltern, gefolgt von einer Zurechtweisung.

Der Weihnachtsmann hält den Atem an

Und dann plötzlich öffnet sich die Kühlschranktüre wieder. Ganz langsam dieses Mal. Klammheimlich geradezu.
Der Schokomann hält den Atem an.
Ein Kindergesicht lugt in die Kälte. Die runden Kinderaugen mustern neugierig alles, was da so liegt.
„Hier bin ich“, flüstert der Kakaokerl heiser, „im Butterfach!“
Dazu winkt er wie wild mit seinen schwarzbehandschuhten Händen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit blicken die Kinderaugen endlich ins Butterfach. Da werden sie noch größer und fangen an zu leuchten wie zwei blaue Christbaumkugeln.
„Ein Weihnachtsmann, mitten im Frühling“, haucht der Knirps.
Dann streckt er die Hand aus, greift ganz vorsichtig den vor Glück bebenden Schokoladenmann und verputzt ihn ratzeputz noch vor dem Kühlschrank und ohne einen Krümel Schokolade übrig zu lassen. Nur das rote Stanniolpapier liegt noch dort auf dem Boden – leer und still.

Kirschbaum und Möwe, eine Kurzgeschichte von Katja Pelzer

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