Brille auf einem Wollknäuel
Mimosen-Blog

Die Altersweitsicht

Das war ein Schreck! Nein, ich bin nicht infiziert. Und der Schreck bezieht sich auch nicht auf den gefühlt noch nie so fernen Weltfrieden oder die allgemeine Weltlage, die wirklich zum Fürchten ist und unser Tun immer mehr ad absurdum führt. Der Schreck war vielmehr ein ganz banaler: Freundin T., die mir beim Lunch gegenüber saß, war völlig unscharf. Dabei hatte ich Abstand zu ihr und bin eh altersweitsichtig.

Diese Altersweitsicht lässt uns bekanntlich scharf in die ferne Nähe und die nahe Ferne sehen. Eigentlich – und jetzt das! Ich gestehe mir den kleinen Schreck in meiner kleinen Welt zu, obwohl es derzeit allüberall fürchterlich hoch hergeht. Nein, das ist mir nicht entgangen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Altersweitsicht über uns kommt, damit wir gnädiger mit uns sind. Nicht umsonst erinnert das Wort irgendwie an die Altersweisheit. Sie verleiht uns neben dem größeren Wissen auch eine gewisse Milde und einen gelasseneren Blick, der naturgemäß eben nicht mehr so scharf seziert.

Harry außer sich

Ich musste dabei an den Woody Allen Film Harry außer sich (Original: Deconstructing Harry) denken. Der Schriftsteller Harry (Woody Allen) schreibt, wenn er nicht gerade unter einer Schreibblockade leidet, ein wenig zu nah an der Realität, was alle auf diese Art verwursteten Menschen um ihn her zunehmend in Rage versetzt. In einer von ihm verfassten und später verfilmten Kurzgeschichte, verschwimmt der Protagonist, (gespielt von dem wunderbaren Robin Williams) vor unser aller Augen und wird unscharf. Das hat mich 1997 im Kino total begeistert als Idee. Ich fühlte mein eigenes Dilemma ins Bild gesetzt. Denn damals, in der jungen Erwachsenenzeit, lange vor der Altersweitsicht, fühlte ich mich häufig unscharf, nachgerade unsichtbar, weil ungesehen, wollte gleichzeitig als Mimose aber auch lieber unauffällig im Hintergrund agieren.

Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Realität nimmt zu

Doch zurück zu meiner neuerlichen Unschärfe. Sie zeichnet auch mich selbst beim Blick in den Spiegel weich. Sie zeichnet mein Gegenüber oder meine Gegenüberin – gibt’s die schon? – weich. Die Diskrepanz zwischen der von mir im Spiegel wahrgenommenen Realität und einem Foto, das ich ja beliebig mit den Fingern großziehen kann, wird zusehends größer. Mittlerweile habe ich mich in mein Schicksal ergeben und mir eine Lesebrille zugelegt. Nun ja. Das bedeutet natürlich nicht, dass ich sie auch trage.

Ich bin nämlich fast sicher, dass sich Gott oder an wen oder was auch immer die geneigte Leser:in glaubt, uns aus Gnade und Empathie, ab einem gewissen Alter, mit dieser Weitsicht segnet, diesem naturgegebenen Weichzeichner unserer Umgebung. Wir sollen einfach nicht mehr alles sehen, was da so vor unseren Augen abgeht. Nicht den fingerdicken Staub im Bücherregal, nicht die Wollmäuse zu unseren Füßen. Zu viele Informationen und Reize machen uns nicht etwa klüger, sondern nur unglücklicher. Das liegt daran, dass wir bis zu einem gewissen Grad machtlos dagegen sind (gegen den Staub natürlich nicht, aber hey, es gibt Wichtigeres). Dass wir vieles gar nicht ändern können, selbst wenn wir wollen. Das ist meine erprobte Erfahrung. Manchmal tut es einfach gut, die Welt zwar nicht durch eine rosarote Brille zu sehen, das wäre ja Realitätsflucht. Schon aber mit dem augeneigenen Weichzeichner. Das schon. Sonst hält Frau das doch nicht aus, das Ganze. Oder?

Romantische Komödie: Die Putzfrauen meiner Mutter

Ein Kommentar

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Follow by Email