Die Mönchsgrasmücke
Das Geräusch geht Alice durch Mark und Bein. Es ist ein Sausen, Knacken, Kreischen und Brummen.
Alle Jahr wieder zur schönsten Frühlingszeit kommt eine Handvoll Männer in leuchtend-orangefarbener Arbeitsschutzkleidung vor ihrem Fenster zusammen, manchmal ist auch eine Frau dabei, so wie dieses Jahr, im sowieso schon sehr speziellen 2020.
Im Auftrag der Deutschen Bahn, einem der größten Grundstücksbesitzer Deutschlands dezimieren sie mit ihren stinkenden, lärmenden Motor-Rasentrimmern und -Sägen die blühenden Brombeersträucher, die wilde Pflaume, den Sommerflieder und was sonst noch alles dort gedeiht, in dem Biotop vor Alices Fenster. Sie dürfen da nicht wachsen, auf der grünen Böschung, denn die ist nur etwa vier Meter von den Gleisen entfernt.
Die grünen Schönheiten könnten ja den Gleisen oder der Hochspannungsleitung gefährlich werden. Ob diese Büsche allerdings jemals so hoch werden, ist noch die Frage. Die eigentliche Frage ist jedoch, warum diese Männer mit ihren Maschinen nicht im Winter kommen oder im Herbst.
Kein Mensch in diesem Land darf im Frühling an seinen Hecken herumschneiden. Weil und genau das ist der Punkt, hier jetzt die Vögel brüten. Das ist nicht erst seit 2020 so. Sondern schon immer. Und weil wir Menschen das oft genug nicht respektieren und den Vögeln immer mehr Lebensraum rauben, gibt es auch immer weniger von ihnen. Das ist längst kein Geheimnis mehr. Trotzdem passiert es.
Wie jedes Jahr öffnet Alice ihr Fenster und ruft herunter:
„Das dürfen Sie nicht!“
Wie jedes Jahr ruft einer der Männer, es ist immer derselbe:
„Doch. Wir machen, was wir machen müssen! Aber das sind Fachkenntnisse, die kannste nicht erwarten“, sagt er dann noch schulterzuckend zu seinem Kollegen. Der irgendwas von „Hochspannungsleitungen“ schreit.
„Sie sind jedenfalls das einzige Haus, mit dem es Theater gibt!“
Dass sie das einzige Haus sind, mit dem es Theater gibt, findet Alice schon auch seltsam. Denn ein Haus kann kein Theater machen, höchstens seine Bewohner. Aber das will Alice jetzt nicht sagen, dass wäre Haarspalterei und geht am eigentlichen Problem vorbei.
„Artensterben und Klimawandel kennen Sie, die Begriffe“, sagt Alice dann.
„Das hat aber hiermit nichts zu tun.“
„Allerdings“, sagt Alice. „Hier nisten nämlich ganz seltene Vögel. Und das weiß ich zufällig, weil ich hier wohne.“
„Letztes Jahr waren Mücken hier in der Ecke. Das Argument kenne ich auch schon!“, sagt der Mann und scheint mächtig stolz darüber, dass er sich das gemerkt hat.
„Mönchsgrasmücke“, korrigiert Alice ihn aufgeregt.
„Mönchsgrasmücke, jawoll“, murmelt der Mann.
„Ja“, ruft Alice zu ihm hinunter, „Dann wissen Sie das jetzt, bevor es die nicht mehr gibt!“
„Na ja, weniger Mücken ist gut. Weil Mücken stechen!“, sagt der Mann.
„Das ist keine Mücke, das ist ein Vogel“, sagt Alice und ihre Stimme zittert vor Empörung.
Es ist noch dazu ihr Lieblingsvogel. Er ist winzig und hat eine große Stimme.
„Ein Vogel, na ja“ … Er murmelt irgendetwas vor sich hin. „Wie gesagt, mein Vorgesetzter kommt gleich, dann können Sie sich auch mit dem noch mal auseinandersetzen.“
„Mit dem habe ich mich schon letztes Jahr auseinandergesetzt.“
„Na ja und jedes Jahr begreifen Sie aufs Neue nicht, dass das, was wir hier machen, rechtmäßig ist.“
„Das ist nicht rechtmäßig“, sagt Alice verzweifelt.
„Und es wird trotzdem jedes Jahr wieder geschehen, wieder und wieder und wieder!“, sagt er gebetsmühlenartig. „Sechs Meter achtzig Abstand zu den Gleisen muss das Grün haben“, sagt er dann noch in das Rauschen eines vorüberfahrenden Zuges hinein.
Alice ist ganz sicher, dass er im Jahr davor noch von neun Metern geredet hat.
Es scheint ihr alles so sinnlos.
Dann kommt der „Aufseher“ und Alice erzählt alles noch einmal.
„Warum kommen Sie eigentlich immer im Mai und nicht im Februar oder September? Für ein Unternehmen, das sich als umweltfreundlich bezeichnet, ist das wirklich ganz toll. So fürs Image und so“, sagt sie zum Schluss.
Die Männer sind dann gegangen.
Die Böschung ist nur halb geschnitten und blüht weiter. Die Mönchsgrasmücke mit ihrem kleinen schwarzen Häubchen sitzt im höchsten der Büsche und singt sich die große Seele aus dem winzigen Leib.
Wer weiß, wie lange noch.
Mehr von Alice gibt’s hier: Wo ist denn eigentlich dieses Glück
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